Wishmaster

Kapitel 5: Ruhe

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Als Megumi zu sich kam, empfing sie angenehme Wärme und ein lautes, durchdringendes Quieken. War sie noch immer da? Nein. Das war unmöglich. Sie wußte einfach, daß sie in einem geschlossenen Raum war. Zudem hörte sie das Geräusch eines vorbeifahrenden Räumfahrzeugs. „Sie ist wach!“

Die Stimme gehörte Natalie, dachte Megumi fast ein wenig enttäuscht. Aber, sie mußte auch feststellen, daß es hier nach Kaffee roch, und nach Tieren. Das quiekende Geräusch...

Sie öffnete mühsam die Augen und fand sich in einer fremden Wohnung, genauer gesagt auf dem Wohnzimmersofa. Ihr Kopf ruhte auf einem weichen Daunenkissen und jemand hatte sie in dicke Wolldecken eingewickelt. Natalie saß direkt bei ihr und strich ihr die Haare aus der Stirn. „Man, du kannst einem echt Angst machen.“

Aber sie lächelte dabei. Megumi richtete sich auf und sog scharf die Luft ein. Ihr Bein schmerzte höllisch und ihre Arme... Sie waren bis zu den Schultern bandagiert.

Neugierig sah sich Megumi um. An den Wänden neben ihr und neben den Fenstern hingen Bilder. Gemälde, Zeichnungen, Tuscheskizzen. Alles Originale. Links neben ihr stand ein großer Doppelkäfig und ein kleiner Käfig darüber. In dem unteren saß ein dickes, beige- braunes Meerschweinchen und schnupperte neugierig in ihre Richtung. In dem Käfig darüber huschte ein zweites, schwarzes in seine Hütte und in dem scheußlichen, rostroten Käfig lag in einer Weidenkugel eine weiße Ratte mit schwarzen Flecken. Gerumpel drang aus dem Nebenraum... als würde etwas durch die Küche toben...

„Ist das Anjulis Wohnung?“

Natalie nickte. „Totales Rauchverbot,“ stöhnte sie. „Aber süße Tiere hat sie.“ Sie grinste. „Hast du schon mal junge Hasen gesehen?“

Megumi deutete ein Kopfschütteln an.

„Natalie hat recht,“ lächelte Setsuna. Seine Stimme kam von irgendwo hinter ihr. Sie hatte ihn gar nicht gehört.

Megumi drehte sich mühsam um. Ihre Augen schimmerten, füllten sich mit Tränen. „Setsuna!“ rief sie. Natalie stand auf und machte Setsuna Platz.

Lächelnd zog sie sich zurück. „Da möchte ich ja nicht stören,“ sagte sie spitz... aber es klang einfach nur gutmütig. „Aber der Platz neben deiner Schwester heute naht ist mir!“

„Wir bleiben hier?“ fragte Megumi unsicher.

Setsuna nickte. „Es bringt nichts, zurückzukehren. Ärger gibt es so oder so. Aber schließlich kannst du so nicht ins Heim.“

„Machen wir Anjuli so nicht totale Probleme?“

„Ich glaube,“ murmelte Setsuna, wenn wir Giovanna nicht finden, werden wir wirklich Probleme bekommen. Ganz große Probleme.“

Das Mädchen senkte den Kopf. „Und was ist mit Rieke?“

„Sie weiß nur, daß Natalie Anjuli anrufen wollte, nichts sonst.“

„Wir müssen uns verstecken...“

„Abwarten,“ murmelte Setsuna und schloß Megumi in seine Arme. „Das müssen wir jetzt durchstehen.“

Megumi war immer noch nicht wohl dabei, aber irgendwie war es auch aufregend und es gefiel ihr, etwas verbotenes zu tun. So ließ sie das Thema ruhen. Aber sie war auch noch nicht bereit, ihr Abenteuer zu erzählen. Der Schrecken, die Angst, die sie hatte, all das war noch viel zu real und präsent um es verarbeiten zu können. Sie hatte noch immer offene, furchtbare Angst. Aber auch davon sagte sie nichts. „Darf... darf ich bei Anjuli schlafen?“

„Ich glaube, sie und ihr Bruder brauchen heute Nacht noch Ruhe...“

Megumi senkte den Kopf und nickte.

„Soviel Angst?“ fragte Setsuna.

Megumi reagierte nicht.

„Okay, ich frage sie.“

Er stand auf und verschwand irgendwo hinter ihr, im Flur. Sie konnte eine Türe Hören und die Stimmen von Natalie, Setsuna und Anjuli. Was sie sagten verstand sie nicht. Nach ein paar Minuten kam ihr Gabriel entgegen, sein Bettzeug im Arm. Wortlos lud er es neben ihr ab und schlug sie in ihre Decken ein, um sie auf die Arme zu nehmen und durch den schmalen, ebenfalls mit Bildern vollgestopften Flur in das Schlafzimmer zu tragen.

„Was ist mit dir,“ fragte sie leise. „Du bist so blaß und erschöpft. Ich spüre Dein Herz so hart schlagen.“

Gabriel schenkte ihr ein sanftes Lächeln. „Ich bin einfach nur erledigt, nichts weiter.“

Megumi spürte, daß das nicht die Wahrheit war. Aber um tiefgreifender zu bohren hätte sie mehr Energie gebraucht, und die war ihr Körper einfach nicht bereit zu geben.

Das Schlafzimmer war ein großer, kalter Raum, vollgestopft mit Büchern und Comics, Zeichenmaterial und Plüschtieren.

Auch hier hingen unglaublich viele Zeichnungen, die allesamt sehr gut aussahen... Viele davon hatten Ähnlichkeit mit Gabriel... Vielleicht war es auch einfach nur, weil sie Geschwister waren... Dann rückten die Bilder aus ihrem Blickfeld und Gabriel legte sie in ein riesig großes Bett. Megumi rollte sich, soweit ihr Fuß das zuließ, zur Wand und kuschelte sich in die Kissen, die noch nach Weichspüler dufteten. Anjuli lächelte nur und nickte, als sich Setsuna und Gabriel entfernten.

„Schlaf gut,“ murmelte Gabriel, küßte seine Schwester zärtlich, und irgendwie sehr intensiv... zu intensiv für reine Geschwister, dachte Setsuna. „Träume süß, okay?“

„Süße Träume,“ lächelte sie. „Ruht euch gut aus, okay?“

 

Draußen war es laut. Der Verkehr, der über die Hauptstraße rollte, war durchaus in der Lage, Anjuli zu wecken. Beinah automatisch erwachte sie immer wieder aus solchen Gründen, oder, weil der Glockenschlag des Kirchturms sie weckte...

Anjuli verließ ihr Schlafzimmer so leise es ging und schlich sich in den Flur zu ihrem Telefon. Sie nahm den Hörer ab und begann eine Nummer einzutippen... bevor sie aber das Freizeichen hörte, überlegte sie es sich anders und legte auf.

„Was ist denn?“ murmelte Gabriel leise und hob den Kopf von seinem Kissen.

Setsuna hatte sich im Schlaf fest an ihn geschmiegt und sein Kopf ruhte auf Gabriels Brust.

„Du bist schon wach?“ fragte sie leise und ging um das offene Holzregal, was in dem offenen Übergang zwischen Wohnzimmer und Flur stand. Lächelnd setzte sie sich auf die Armlehne des Sofas und schaute auf die beiden Jungen herab.

Ihre Hände ruhten zwischen ihren Knien.

„Wen wolltest du anrufen?“ Gabriel ließ seinen Kopf wieder in die Kissen sinken und sah lächelnd zu Setsuna, der immer noch schlief und nur ein wenig schwerer atmete.

„Wegen ihnen?“

Anjuli schüttelte den Kopf. „Nein. Ich hatte nur in dem ganzen Chaos vergessen, daß ich heute frei hab.“

Gabriel rollte gespielt theatralisch mit den Augen. „Halbhirn,“ sagte er leise.

„Wird nicht frech, Kleiner, klar?!“ entgegnete Anjuli freundlich.

„Sag mal, was soll ich eigentlich in der Schule sagen, warum ich an diesem zauberhaften, kalten, verschneiten Montag nicht da bin? Zumal es direkt nach den Weihnachtsferien ist?“

Nachdenklich wiegte Anjuli den Kopf, hob die Hand und strich Gabriel ein paar Haare aus der Stirn. „Was hältst Du von einer Grippe?“

Gabriel zuckte die Schultern und verharrte dann reglos, als er spürte, wie Setsuna sich regte, wie seine Lider flatterten.

„Masern?“ fragte Anjuli leise. „Oder willst du lieber du lieber Windpocken, oder Mumps?“

„Von letzterem kann man recht schnell impotent werden,“ lächelte er. „Nee, is nich mein Ding. Laß mal, eine einfache Übelkeit tut es auch.“

Sie verzog abfällig die Lippen. „Ich hätte dir doch mehr Phantasie zugetraut.“

„Willst du, daß ich dem alten Leistenring klarmache, daß ich wegen Menstruationsschmerzen ausfalle? Der lacht sich doch schief und schleift mich im Anschluß zum Schulleiter.“

„Haben auch schon ein paar Typen gebracht,“ erklärte sie.

„Klar, aber die waren sicher nicht im letzten Abi- Jahr.“

Setsuna zuckte zweimal kurz mit den Füßen, bevor er langsam aus seinen Träumen in die Wirklichkeit dämmerte und die Lider hob. Anjuli langte über Gabriel hinweg und strich Setsuna zärtlich über die Haare.

„Morgen Kleiner.“

Der Junge blinzelte müde, sah Anjuli, und dann spürte er Gabriel, seinen warmen Atem und seine Nähe. Sofort war er wach und rückte etwas von Gabriel herunter, bis er gegen die Rückenlehne des Sofas Stieß. Genaugenommen war er keine zwei Zentimeter weit gekommen. Gabriel wendete seiner Schwester den Kopf zu. Sekunden lang sahen sich die Geschwister nur an. Dann begannen sie beide zu lachen. Gabriel befreite seinen linken Arm unter der Decke und schubste sie.

Erschrocken setzte sich Setsuna auf und wollte nach Anjulis Arm greifen, damit sie nicht von der Armlehne abrutschte. Aber Anjuli hielt sich problemlos auch so. Scheinbar war sie das von ihrem jüngeren Bruder gewohnt. Dennoch begriff Setsuna nicht ganz die Art von Humor... Er verstand nicht recht, warum sie beide nun über ihn lachten. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er nackt war bis auf seinen Slip... wie auch Gabriel, der nur eines seiner Hemden trug... nichts weiter... Aber warum lachte dann auch Gabriel? Hielten sie ihn nun für schwul?

Setsuna spürte wieder, wie ihm das Blut in die Wangen schoß. Und mit der Angst um die Peinlichkeit stieg auch aggressive Wut in ihm hoch. Er haßte es, verarscht zu werden...! Anjuli grinste, während sie ihn ansah.

„Hör mal, du bist nicht das erste männliche Wesen, was ich nackt sehe. Und du bist auch nicht der erste Junge, der sich mit meinem Bruder das Bett teilen muß. Hat dich das Gerippe denn wenigstens in ruhe schlafen lassen?“

Wenn es eine Möglichkeit gab, daß die Nuance von rot noch etwas tiefer werden konnte, dann tat sie das gerade eben.

„Gerippe?!“ zischte Gabriel und setzte sich gerade neben Setsuna auf. „Meinst du damit zufällig deinen einzigen Lieblingsbruder...?“

Setsuna bemerkte, wie Gabriel von Anjuli unbemerkt beide Hände auf ihre Taille zubewegte...

„Wahlweise...“ antwortete sie trocken und schrie in der gleichen Sekunde auf, als er ihr in die Seiten kniff. Wie von der Tarantel gestochen fuhr sie auf und wollte ein wenig Sicherheitsabstand zwischen sich und ihn bringen, aber Gabriel schien viel mehr Kraft zu haben, als Setsuna schon in der vergangenen Nacht hatte feststellen können. Er hielt sie ungerührt fest, zog sie über die Lehne auf seinen Schoß und kitzelte sie dabei noch immer... Mit einem selten bösen, siegessicheren Lächeln auf den Lippen. Sie wehrte sich zwar, aber scheinbar kam sie gegen ihn nur schwer an. Und ja, sie war kitzlig... und wie.

Setsuna fiel es verdammt schwer, den fliegenden Ellenbogen auszuweichen, die sich urplötzlich überall in seiner Nähe bewegten.

Ohne drüber nachzudenken begann er einfach mitzumachen...

Er spürte plötzlich Hände, die seine nackte Haut berührten, ihn Kitzelten, manchmal leicht kratzten, manchmal mehr streichelten. Auch er zuckte immer wieder zusammen, mußte lachen, war fast benommen von dem Gefühl. Irgendwann wußte er nicht mehr, wo oben und unten war, er spürte nur noch das wohlige, prickelnde Gefühl, die Hände, die Körper, die dicht aneinander lagen und einen angenehmen Schauer, der ihn wieder erröten ließ.

Nach einer Weile arbeitete sich Anjuli zwischen den beiden Jungen hervor.

„Genug jetzt,“ bat sie keuchend. Ihr Gesicht war flammend rot und ihr Atem ging stoßweise. Mit der einen Hand strich sie ihre Haare zurück und zog sich mit der anderen ihren Pulli wieder dahin, wo ein Pulli zu sitzen hatte.

Gabriel verzog die Lippen, setzte sich dann aber auch auf und strich sich seinen langen Zopf zurück. Setsuna blieb liegen und beobachtete die Geschwister aufmerksam. Schon lange hatte er nicht mehr so frei gelacht. Und außerdem hatte er einen schöne Perspektive zu Gabriel. Der Junge kniete vor Setsuna auf dem Schlafsofa inmitten ihrer zerwühlten Decken. Sein Blick glitt über die ebenmäßige Gestalt des Jungen, über die schlanken, muskulösen, endlos langen Beine, bis hinauf, wo schließlich das weiße, zerknitterte Leinenhemd begann und seinen Schoß diskret bedeckte. Dennoch sah Setsuna, daß Gabriel erregt sein mußte...

Er spürte, daß er schon wieder rot wurde, aber es gelang ihm nicht seinen Blick von Gabriels Schoß zu nehmen. Bis sich Gabriel nach hinten sinken ließ und ein leichter, dumpfer Schlag erklang, den Gabriel mit einem nicht ernst gemeinten Aua kommentierte.

Setsuna richtete sich erschrocken auf und sah Gabriel an.

Anjuli ging gerade in die Küche hinüber. „Selbst dran schuld,“ sagte sie grinsend, ohne sich umzudrehen. „Hab kein Mitleid mit ihm, Setsuna. Geschieht ihm ganz recht, wenn er sich die Birne anhaut. Er weiß doch wo die Rückenlehne ist. Das Sofa habe ich nicht erst seit gestern...“Gabriel verdrehte lächelnd die Augen und schüttelte den Kopf. „Lach dir nie so eine mitleidlose ältere Schwester an, Setsuna. Das bringt nur Ärger mit sich.“

Setsuna nickte aus einem Impuls heraus und schüttelte einen Herzschlag später den Kopf.

„Wie ist es, wollt ihr noch ein wenig schlafen oder hab ich euch soweit mir beim Füttern meiner Tiere zu helfen und den Kaffee zu kochen?“

„Klasse,“ knurrte Gabriel. „Es sind unsere Tiere!“ setzte er etwas lauter hinzu.

Wie als hätten die zwei Meerschweinchen in dem Doppelkäfig im Wohnzimmer verstanden, um was es ging, quiekten beide gleichzeitig durchdringend los.

Setsuna zuckte vor Schreck zusammen. Er hatte diese Tiere schon oft in den Schaufenstern von Tierhandlungen gesehen, aber nie gehört. „Sind die immer so laut?“ Gabriel nickte. Währendes gesellte sich auch eine weiß schwarze Ratte hinzu, die aus ihrer Weidenkugel auf einen im Käfig schräg hängenden Ast kletterte und sich an den Gittern aufrichtete. Die kleine helle Nase in dem Fell bewegte sich neugierig schnuppernd auf und ab. Barthaare zuckten aufgeregt. Dann plötzlich nieste die Ratte und begann eifrig ihr Schnäuzchen und ihren kleinen Kopf zu putzen.

In dem Käfig darunter streckte ein kleines schwarzes Meerschweinchen seine Schnauze aus der Holzhütte in der er saß und schnupperte vorsichtig. Das andere Meerschweinchen lief aufregt vor seiner Hütte umher, drehte sich einmal im Kreis, um seine eigene beachtliche Achse und zog sich mit den Vorderpfoten am Gitter hoch. Aus seinem halboffenen Mäulchen kamen jämmerliche Quieklaute, als würde der kleine, beige braune Kurzhaarball anmelden, daß man ihn hier auf das grausamste mißhandelte und ihn einfach verhungern ließ.

Auch aus der Küche drangen Laute von aufgeregtem gehoppel...

„Ist das hier normal?“

Gabriel nickte. „Was erwartet du bei neun Tieren?“

„Sie machen Lärm, sie machen Dreck und kosten Geld,“ entgegnete Setsuna, sah dann aber wieder zu den beiden Meerschweinchen hinüber. Der kleine Braune sah einfach nur unheimlich lieb aus, dick und unheimlich niedlich. Er bereute den Kommentar sofort.

„Wie heißt der da?“

Gabriel wendete den Kopf. „da, ganz unten in dem Käfig, das ist Ichirou. Der Dunkle Quieker ist Paul, der gehörte einer Freundin von Anjuli, bis die ihn loswerden wollte. Ganz oben, das ist Nico. Anjuli sagt immer er wäre der schlauste... manchmal hab ich den bösen Eindruck, sie meint dabei nicht nur die anderen Tiere...“

Er warf einen Blick über die Schulter zur Küche.

„Erfaßt,“ entgegnete sie, während sie irgend etwas seltsames, für Setsuna furchtbar lautes tat. „Der Meinung sind wenigstens Marlene und ich...“

„Marlene?“

Gabriel nickte und stand auf. „Die Häsin, die wir hier haben. Außer Anji das einzige weibliche Geschöpf hier... Im Normalfall.“

Er schlenderte in die Küche hinüber. Scheinbar erwartete er, daß Setsuna ihm folgte. Unsicher sah sich der Junge um und glaubte seine Hosen vom Fußboden auf. Eilig streifte er sie über und schloß Knopf und Reisverschluß.

„Setsuna?“

Der Junge treckte sich, gähnte und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Es war immer noch ein abartiges Gefühl, fand er. Sein ganzes Leben lang hatte er langes Haar gehabt, und nun... es fühlte sich grausam an!

„Setsuna?“ Anjuli schaute um die Ecke des offenen, türlosen Eingangs. „Willst Du Kaffee, Tee, Kakao, Milch, Cola oder Saft?“

So, wie sie dastand, locker an die Trennwand gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt und so zierlich und Klein, rief sie in ihm ein Gefühl von freundschaftlicher Wärme wach.

Noch als er aufwachte, war er sich sicher, einen gewaltigen Fehler gemacht zu haben, aber allein ihre offene, freundliche Art und die Tatsache, daß sie ihn hier einfach wie ein Familienmitglied akzeptierte, gab ihm ein ungewöhnliches Gefühl von Geborgenheit.

„Kaffee... bitte, wenn es dir nichts ausmacht.“

Lächelnd winkte sie ab. „Hier vor dir stehen die zwei schlimmsten Kaffee- Junkies, die du dir vorstellen kannst. Wenn Du hier was bekommen kannst, dann Kaffee.“

Er lächelte scheu. „Soll ich Natalie und Megumi wecken?“

Anjuli wiegte den Kopf. „Laß sie einfach weiterschlafen. Beide haben Dinge gesehen und gehört, die sie vielleicht nur so ertragen können.“

Er sah sie fragend an. „Hast du sowas schon erlebt?“

Sie zuckte die Schultern und winkte ihm, mit in die Küche zu kommen. Diesmal folgte er ihr.

Der Raum war erheblich größer als das Wohnzimmer, und hier sah man genau, daß die Trennwand nicht zum Originalschnitt der Wohnung gehörte. An der Trennwand standen drei gleich große Käfige auf einem niedrigen Podest, die schon nah an Badewannen heranreichten. Gabriel kniete vor der Käfigburg. Er hatte das Türchen des untersten Käfigs aufgemacht. Ein unglaublich dicker, großer, weißer Hase mit schwarzen Flecken, saß mitten im Käfig und ließ sich von ihm streicheln, während zwei schwarze Jungtiere und ein kleineres, gestromtes, braunes sich fast durch das Türchen drücken wollten. In dem Käfig darüber lag ausgestreckt ein dunkelbraun gestromter Hase, kleiner als der weiße Hase unten, aber kein Jungtier mehr. Im Obersten Käfig, direkt vor seiner Türe, saß ein seltsam niedlicher, kleiner Hase mit trüben Augen, den Blick irgendwo nach oben gerichtet. Er hatte dicke Pausbacken und ein völlig verklebtes Näschen. „Was hat der Kleine da?“

Gabriel sah nach Oben. „U-chan ist Blind,“ sagte er schlicht.

Anjuli nickte traurig und ging um die Jungen herum zur Anrichte. „Usagi ist blind zur Welt gekommen. Hornhautablösung oder so was.“ Sie hob die Schultern. Die Tierärztin hat versucht, was sie konnte, aber U-chan ist blind und daran läßt sich nichts ändern. Nur hat sich die Tränenflüssigkeit in seinen Nebenhöhlen angesammelt und seither niest er und ist ständig krank.“ Sie füllte den Kaffee von er elektrischen Kaffee- Mühle in den Filter. „Er ist mein kleiner Liebling.“

Setsuna trat näher an die Käfige heran und sah durch das oberste Gitter. Der kleine Hase nieste leise. Sein Köpfchen zuckte kurz und seine Augen preßten sich zusammen. Dann starrte er wieder ins leere.

„Er tut mir leid,“ sagte Setsuna spontan. Es war so ehrlich gemeint...

Gabriel richtete sich auf. „Hilf mir doch, die kleinen Monster zu füttern,“ lächelte er.

Setsuna nickte. Ihm war immer noch völlig schleierhaft, wie diese kleine, perfekte Familie mit dem harmonierte was er gestern Nacht gesehn hatte. Ihren Tot, ihre Wiederauferstehung, Megumis Verschwinden und Wiederkehr... Die Untoten... Hatte er nicht vielleicht alles nur geträumt? Nicht nach dem, was sie ihm gerade erst gesagt hatte...

„Hey, Kleiner,“ Anjuli schlug Gabriel mit der flachen Hand auf den nackten Hintern. „Zieh dich endlich mal an.“

Setsuna errötete wieder, zumal sie sein Hemd hinten so hoch zog, daß Setsuna Gabriels Po sehen konnte... Ein, wie der Junge erschrocken feststellte, sehr fester, wohl gerundeter Po..., genauso glatt und Makellos, wie seine gesamte Haut.

Gabriel lächelte. „Warte nur, daß gibt Rache bei der nächsten Gelegenheit.“

Sie hob grinsend die Schultern. Verschwinde, mein Süßer.“

Das Lächeln auf Gabriels Zügen wurde sanft und liebevoll.

„Bis gleich ihr beiden.“

 

Das Frühstück verlief relativ still. Setsuna vermied es, viel zu sprechen. Ihn quälten die Fragen nach dem, was Gestern geschehen war, mehr noch. Die Dinge, die er geträumt hatte, die Schmerzen in seinen Träumen, sein völlig aus dem Gleichgewicht geratenes Weltbild beschäftigten ihn. Er hatte so viele Fragen, in der Hoffnung, daß Anjuli sie ihm beantworten konnte, oder wenigstens Gabriel, aber er wagte nicht, sie zu stellen. Wenn er zu fragen begann, würde vielleicht auch einer der beiden Geschwister auf die Idee kommen ihm fragen zu stellen. Und eigentlich wollte er vermeiden Fragen zu beantworten, oder etwas von dem zu erzählen, was er geträumt hatte, oder dachte. Die Situation würde ihn erwarten, spätestens, sobald Megumi erwachte und Anjuli sie fragen würde, was sie gesehn hatte, was ihr widerfahren war. Er scheute vor dem Moment zurück, denn er wußte, wenn er aussprach, was er gesehn hatte, würde das Bild des einfachen Alptraums zur Wirklichkeit werden.

„Möchtest du noch was?“ fragte Anjuli. Setsunas Blick ruckte von dem halben Brötchen auf seinem Teller hoch. Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß er die ganze Zeit nur auf seinen Teller gestarrt hatte. Er fürchtete schon fast, daß sie ihn gleich fragen würde, ob er etwas habe. Aber die frage blieb aus. Entweder war sie zu umsichtig, ihn direkt darauf anzusprechen, oder sie dachte einfach an ganz andere Dinge. „Kaffee?“ fragte sie freundlich lächelnd. Wenn Setsuna ehrlich war, so schmeckte der Kaffee grauenhaft zu bitter. So bitter, daß er sogar freiwillig um Milch und Zucker bat. Er wußte, daß Anjuli die erste Kanne gekocht hatte, aber, als er duschen ging, hatten die beiden die erste Kanne bereits gelehrt und es lief neuer Kaffee durch. Er wußte nicht, wer das Zeug zusammengebraut hatte, aber es war nicht nur Galle bitter, sondern auch irgendwie atzend scharf.

Setsuna schüttelte den Kopf. „Lieber nicht,“ sagte er zaghaft.

Über Anjulis Züge huschte wieder dieses bösartige Grinsen. „Siehst du, Gabriel, Doch wieder Dünnsäure!“

Der Junge verzog die Lippen. „Da will man mal helfen und kriegt voll eine vor den Latz!“ Andere, dachte Setsuna wären jetzt vermutlich schon sauer geworden, aber in Gabriels Augen blitzte es belustigt auf. Scheinbar machte er sich schon wieder für ein kleines Wortgefecht bereit. Setsuna hatte sehr schnell bemerkt, daß die Hälfte aller unfreundlichen Worte nicht böse gemeint waren. Die Geschwister kabbelten sich nur ständig. Und scheinbar machte es ihnen Spaß, aufeinander herumzuhacken.

„Soll ich dann auch nicht spülen?“ fragte er leise, lächelnd.

Sie goß sich Kaffee nach, halb aufgefüllt mit Milch.

„Willst du auf das Urbild des Mannes raus?“ fragte sie nüchtern. „Hübsch sein und nix tun?“

Gabriel schenkte ihr ein zahniges Lachen. „Sieh’s mal so, wenn dem so wäre, hätte ich mein Leben lang nichts gemacht.“

Setsuna schluckte hart.

Anjuli grinste genauso breit. „Einbildung is‘ auch ne Bildung, Kleiner.“

Gabriel schob demonstrativ den Unterkiefer vor.

„Keinen Streit!“ rief Setsuna plötzlich laut.

Er merkte, daß er schlagartig die ungeteilte Aufmerksamkeit beider hatte.

„Streit?“ echote Gabriel. „Wir streiten nicht...“ Dann wurde ihm bewußt, wie das alles auf Setsuna wirken mußte. Über seine Lippen huschte ein entschuldigendes Lächeln. „Der Tonfall ist normal zwischen uns. Aber wir meinen das nicht böse.“

„Das weiß ich ja, aber...“ Setsuna verstummte erschrocken. „Ich wollte... ich bin nur...“

Schließlich verstummte er verlegen und griff nach seiner Tasse.

Gabriel und Anjuli tauschten einen Blick. „Ich glaube, wir sollten uns ml ein wenig zusammenreißen,“ sagte sie schließlich lächelnd und stand auf.

Gabriel senkte den Blick und nickte. Auch er stand auf und begann den Tisch abzuräumen und die in Tupper- Dosen gepackten Käse und Wurstpäckchen in den Kühlschrank zu stellen. Schließlich stand auch Setsuna auf und beteiligte sich an der Hausarbeit. Obwohl, viel zu tun ließen ihm Anjuli und Gabriel nicht. Irgendwann entschied sich der Junge dazu, sich still auf einen der zwei schwarz ledernen Küchenstühle zu setzen und einfach zu warten, bis die Geschwister mit der Hausarbeit fertig waren.

Plötzlich stand Gabriel neben ihm. „Du bist so bedrückt,“ sagte er leise und ging neben ihm in Hocke. Vertraut legte er seine Hände auf Setsunas Knie. In der Geste lag viel mehr Vertrauen und Wärme, als er es sich eingestehen wollte. „Haben wir dich so sehr eingeschüchtert?“

„Nein,“ murmelte Setsuna. Wieder schoß ihm das Blut in die Wangen. „Ich... ich bin mir nur nicht sicher...“

Gabriel strich mit seinen Fingerspitzen über Setsunas Wangen, ernst, still.

Setsunas Körper elektrisierte. Er spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten, seine Knie weich wurden und er zu zittern begann. Seine Hände wurden Feucht und zugleich begannen seine Lenden leicht zu pochen.

„Ich... mache mir Sorgen wegen Lea und Marion,“ stammelte er. „Ich meine... was sollen wir machen? Wir sind nicht nach Hause gekommen, wir sind nicht in der Schule und keiner weiß, wo wir sind. Lea und Marion werden sich sonst was denken, sie verlieren vielleicht ihre Lizenz...“

Gabriel nahm Setsunas Hände in die seinen. Der Blick der großen, grünen Augen des Jungen hielten Setsunas gefangen. „Glaub mir, in einigen Tagen wird das niemanden mehr interessieren, wenn wir Giovanna nicht finden,“ seine Stimme klang dunkel, ernst, ruhig und sanft. Als er weiter sprach, hatte sich bereits tiefe Angst in Setsuna manifestiert. „Dann wird etwas passieren, was schlimmer ist, als du es dir vorzustellen in der Lage bist.“

 

„Ich würde sagen, die beiden Heimleiterinnen sind nur ein sekundäres Problem,“ murmelte Anjuli und setzte sich in den zweiten, freien Stuhl. Sie zog die Knie an den Leib und umfing sie mit den Armen. „Setsuna ist eine verdammt enge Freundin von mir. Ich habe sie gerne gehabt, aber das, was hier geschieht, könnte...“

„Anjuli!“ Gabriel sah hoch, sah ihr in die Augen. Es klang nach einer Warnung, einem Verweiß. Verwirrt sah Setsuna Gabriel, dann Anjuli an. Im Moment schien er nicht der kleinere Bruder zu sein. Im Gegenteil...

„...könnte böse ins Auge gehen!“ sagte sie. Ihre Stimme erhob sich etwas. Sie schien recht wenig auf Gabriels Verweis zu geben. Giovanna besteht dummer weise nur aus Gefühl und Herz, aber wenig aus klarem, logischem Menschenverstand. Sie ist verdammt einfach zu beeinflussen, und jeder kann sie lenken, wie eine Puppe, wenn derjenige nur ein wenig ihren Wünschen schmeichelt.“ In ihrer Stimme lag einige Wut, eine gewisse Aggression, die ihre gesamte Person zu durchweben schien. Gabriel sah sie nur still an, traurig, als hätte er einen Kampf gegen sie verloren, und sie einen Fehler begangen.

„Wovon redet ihr...“ Setsuna biß sich auf die Unterlippe. Ihm war die Frage einfach so herausgerutscht. Nun hatte er doch das Thema berührt. Ihm blieb nun kein Rückzug mehr.

„Davon,“ begann Gabriel leise. „... daß Giovanna vermutlich einem Geschöpf jenseits deiner Vorst... unserer Vorstellung begegnet ist. Sie ist zu labil, um dessen Einfluß zu entgehen...“

„Wem!“ rief Setsuna plötzlich. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund erwachte in ihm eine unglaubliche, starke Wut. „Verdammt halt mich nicht zum Narren! Ich bin kein Kind mehr! Du bist mir verpflichtet! Du bist mein...“

Gerade wußte er noch, was er in seiner Wut sagen wollte, aber, bevor es ihm über die Lippen kam, verlor sich der Gedanke in Nichtwissen und Nebeln. Für einen winzigen Moment war er nicht mehr der Weisenjunge, sondern... So schnell wie die Wut kam, ging sie auch, mit seiner Erinnerung. Er schloß die Augen und schüttelte den Kopf. „Was war das eben...?“

Gabriel schüttelte den Kopf und legte ihm sanft den Zeigefinger über die Lippen. „Du hast dich für einen winzigen Augenblick an etwas erinnert, etwas, daß lang zurückliegt.“

Setsuna sah ihn aus großen Augen an.

„Morgen Leute!“

Natalie sah um die Ecke, gähnend, mit tiefen, dunklen Ringen unter den Augen. Sie trug nur ein Unterhemd und einen dünnen, knappen Tanga- Slip. Aber das schien ihr recht gleichgültig zu sein.

„Morgen Süße,“ lächelte Anjuli.

„Frühstück schon vorbei, oder krieg‘ ich noch nen Kaffee?“

Gabriel wendete ihr den Kopf zu. „Dich wirft wohl auch gar nichts aus der Bahn.“

Natalie wiegte den Kopf. „Wenn du den Irrsinn gestern Nacht meinst... Doch, aber ich memm‘ hier nicht rum, im Gegensatz zu einigen anderen Pflänzchen.“

Setsuna warf ihre einen bösen Blick zu, den sie ignorierte. „Anwesende natürlich ausgenommen,“ sagte sie spitz. Mit zwei schnellen Schritten war sie bei Anjuli. „Sag mal, Anji, kann ich duschen? Und... hast du ein paar frische Klamotten für mich?“

Die junge Frau nickte. „Klar, kein Problem.“

„Ach ja,“ murmelte Natalie. „Suchen wir heute weiter nach Giovanna?“

Setsuna und Gabriel sahen sie beide mißtrauisch an.

„Hey, was denn?! Nach dem Scheiß Gestern sollten wir uns besser aus dem Land verziehen, denn, wenn wir ohne Giovanna zurückkommen, Ist Deutschland zu klein, Kannst du dir vorstellen, wie Lea durchknackt? Die rastet so heftig aus, die würde uns sogar in verschiedene Erziehungsheime schicken.“

Setsuna nickte mit gesenktem Kopf. „Ob sie noch immer da ist, in dem Park, allein?“

Natalie zuckte die Schultern. „Ich geh dann mal duschen.“

 

Da Megumi noch immer schlief, entschied sich Anjuli dazu, einkaufen zu fahren, zusammen mit Natalie. Setsuna und Gabriel blieben zurück, damit jemand da war, wenn Megumi erwachte.

Gabriel stand noch eine ganze Weile reglos am Wohnzimmerfenster, bis Anjulis kleiner, roter Fiesta aus der Parklücke, auf die Straße fuhr und den Wagen dann auf die Kreuzung hinaus lenkte.

„Du bist unruhig,“ bemerkte Setsuna und rollte sich halb auf dem Sofa zusammen.

Gabriel sah über die Schulter und nickte.

„Ich mache mir Sorgen um Anjuli,“ sagte er schlicht, gab aber Setsuna keine genaue Begründung.

Setsuna hatte das Bettzeug ordentlich zusammen geräumt. Aber irgendwie war ihm kalt. Er zog die Beine an den Leib und schlang die Arme um den Oberkörper.

„Ist dir kalt?“ Gabriel wendete sich vom Fenster ab und drehte die Heizung hinter dem Fernseher an.

Das kleine, braune Meerschweinchen kam aus seiner Hütte, huschte einmal im Kreis durch seinen Käfig und schnupperte in Gabriels Richtung. Leise quietschte es vor sich hin, aber eher, als habe es etwas wichtiges zu erzählen. Sein dunkler Artgenosse antwortete ihm.

Gabriel entfaltete eine der Wolldecken und legte sie ihm behutsam über.

Aber die Kälte blieb.

„Soll ich dir einen heißen Tee machen?“

„Wenn dein Tee so eine Katastrophe ist, wie dein Kaffee, verzichte ich lieber,“ sagte er leise und versuchte zu lächeln, aber es mißlang kläglich. Er fühlte sich einfach nur elend und müde. Sein Schädel pochte seit einigen Minuten, seit der letzten Rückerinnerung, Wortlos ging Gabriel in die Küche hinüber. Setsuna hörte ihn darin herum hantieren, Wasser aufdrehen, das Geräusch des Wasserkochers und eine Schranktüre...

Ein paar Sekunden später kam er zurück und stellte eine Tasse mit heißem Wasser und einem Teebeutel darin ab.

„Dabei kann ich nicht viel falsch machen.“

Setsuna sah ihn dankbar an und nickte freundlich.

Gabriel schob sich an ihm vorbei und setzte sich mit untergeschlagenen Beinen auf das kleine Eck- Schlafsofa.

„Das Geschöpf, was sich Giovannas Bewußtsein bemächtigt hat, was sie ausnutzt, ist ein freier Geist...“ Gabriel zögerte kurz. „Der Wishmaster.“

Setsuna wendete ihm den Kopf zu. „Klingt das nicht ein wenig pathetisch?“

Irgendwie klang seine Stimme nicht annähernd so fest und spöttisch, wie er es wollte. Im Gegenteil, sie schwang unsicher. Er ahnte nicht einmal die Ausmaße des Begriffes, fühlte aber die Bedrohung.

„Was ist das für ein Geschöpf...?“

Gabriel entfaltete seine langen Beine und streckte sich auf der langen Seite des Sofas aus, auf dem Bauch liegend, so daß er zu Setsuna hochsah. „Der Wishmaster...“ Er wendete den Blick ab und starrte eine Weile unentschlossen auf seine Hände. „Ein freier Geist, etwas normal gestaltloses, das einen Wirtskörper zum Leben braucht. Er spiegelt dir vor, deine Wünsche zu erfüllen, deine Hoffnungen, und, genaugenommen tut er es auch. Aber letzten Endes nur bis zu einem gewissen Grad, nämlich dort, wo Traum und Alptraum sich voneinander trennen. Er verwebt sich mit deinem Geist, erschafft Dinge, in einer zweiten, parallele Welt, seiner Heimatebene. Manchmal plaziert er auch seine Kreationen in den Träumen anderer, oder, wenn seine Macht weit genug vorangeschritten ist, beginnt er sich in dieser Welt zu manifestieren. Aber, wenn es so weit ist, kann ihn so einfach nichts mehr aufhalten.“

„Setsuna schauderte bei dem Gedanken an das, was Gabriel sagte. Aber da war etwas, Gabriel hatte ihm etwas verschwiegen... viel, wenn er sich auf sein Gefühl verließ.

„Aber solche Geschöpfe kann es hier nicht geben. Nur in verdammten Romanen oder Filmen!“ hörte sich Setsuna sagen. Er wußte, daß das hier unmöglich war. Aber zugleich sagte ihm auch eine Stimme in seiner Erinnerung, daß es vielleicht eines der Geschöpfe war, die beim Weltenwechsel die Grenzen passiert hatten. Wessen Weltenwechsel? Warum? Was dachte er da überhaupt? Dennoch... der Gedanke ließ ihn nicht mehr los.

Gabriel wiegte den Kopf und sah zu Setsuna hoch. „Das mußt du für dich entscheiden, Setsuna.“

 

Anjuli fuhr, Natalies Meinung nach definitiv zu schnell über die verschneiten Landstraßen. Dennoch fand sie, war es recht sinnlos, Anjuli darauf anzusprechen. Es war etwas in Anjulis Art. Etwas, daß sie dazu brachte unvorsichtige, selbstzerstörerische Sachen zu machen...

„Wohin fahren wir?“

Die junge Frau wiegte den Kopf. „Einkaufen. Ich rechne normal nicht mit soviel Leuten bei mir.“

„Und wo?“ Natalie sah demonstrativ aus dem Seitenfenster. An ihr zogen verschneite Felder vorbei. „Mainz liegt glaube ich, in der anderen Richtung, oder?“

Anjuli deutete ein nicken an und schaltete einen Gang nach unten, als sie in das nächste Dorf einfuhren.

„Ich fahre nach Ingelheim zum Walmart...“

Natalie erschrak sichtlich. „Bist du total bekloppt?!“ Wenn Lea mich sieht, killt sie mich!“

„Ich will wissen, was bei euch los ist, Natalie. Wenn ein Haufen Bullen vor der Türe stehen, gut, wenn nicht, geht da was vor, daß ich nicht mag... Verstehst du, was ich meine?“

„Willst du damit sagen, daß Lea und Marion... Nie, nicht die Beiden! Das sind die nettesten Frauen die ich kenne!“

„Dann erklär‘ mir mal, warum ein Mädchen wie Giovanna in eine Art größerer Familie integriert wird, nachdem jedes andere Heim, in dem sie bis heute war, eine Nummer übler war als der Vorgänger?!“ Anjuli sah kurz zu Natalie hinüber. „Ich kenne Giovanna schon ein wenig länger als du. Sie ist nicht die Sorte Mädchen, die man in ein normales Kinderheim steckt. Nicht nachdem, was sie bis heute miterlebt hat.“

„Du weißt davon?“ keuchte Natalie.

„Sie hat es mir vor Jahren schon erzählt. Außerdem ist sie viel älter als ihr anderen. Rein theoretisch müßte sie in so ein heim, in dem man auch lehrt und ausbildet. Aber sie ist leider ein wenig zurückgeblieben durch das, was sie bis heute durchgemacht hat. Also müssen eure Heimleiterinnen schon ein besonderer Schlag Mensch sein.“ Sie sah vermied es, Natalie anzusehen. „Du fällst doch vermutlich unter schwer erziehbar, oder?“

Natalies Kopf flog herum und sie starrte Anjuli erschrocken an.

Anjuli nickte nur. „So ungefähr habe ich mir das gedacht. Auch Setsuna und Megumi sind nicht Grundlos in dem Heim, wie vermutlich jedes der Kinder.“

„Aber...“ Natalie empfand tiefe Wut, aber auch Schrecken. Woher konnte Anjuli das wissen?

„Hör mal, Natalie, ich war eine ganze Zeit mit Verhaltens gestörten oder behinderten Kindern zusammen. Ich erkenne eins, wenn ich es sehe. Und du gehörst sicher dazu.“

Natalie wollte aufbrausen, etwas sagen, aber Anjuli winkte ab. „Nein nein, das war kein Angriff gegen dich, keine Sorge. Ich gehörte als Kind auch zu der Sorte. Deshalb. Ich erkenne mich in dir. Auch wenn meine Ausdrucksform eher die war, daß ich jedem die Zähne nach innen gedreht habe, anstatt gegen jeden und alles meinen Haß zu schüren. Nur, nennenswert besser hat es das nicht gemacht. Ich hatte nur Zoff mit meinen Lehrern und der Schuldirektion.“

Sie zuckte lächelnd mit den Schultern, als Natalie verblüfft zu ihr hinüber sah. „Du bist die Sorte Mädchen, die anführt, die stark ist, und sich von nichts so leicht aus der Bahn werfen läßt.“

„Ich habe die Diskette mit Giovannas Daten. Wir haben sie gestern im Rechner von Lea gefunden.“ Natalie sah auf ihre geballten Fauste herab. „Sie haben von uns allen solche Files angelegt. Und ich glaube, da steht mehr drin, als wir gestern Nacht auf die schnelle herausgelesen haben.“ Sie biß sich auf die Unterlippe. „Wenn ich nicht die Starke, Toughe bin, fange ich an, mich zu erinnern, was vor dem Heim war. Und das will ich nicht.“

Anjuli lenkte den Wagen auf die Landstraße hinaus und wurde langsamer, um in die Baustelleneinfahrt zu kommen, ohne die Begrenzungspfosten mitzunehmen.

„Was war damals?“ fragte sie ungerührt.

Natalie schloß die Augen. Sekunden verstrichen, bevor sie antwortete. „Meine Mutter wurde vergewaltigt und ermordet von ihrem eigenen Bruder. Er war damals auf Bewährung draußen... Ich war dabei und habe alles gesehen. Als mein Vater kam, und sah, was vorgefallen war, ist er zu diesem Ungeheuer gefahren... Mein Vater starb in dieser Nacht. Mein Onkel bekam Lebenslänglich. Ich war damals 4...“ Sie konnte nicht verstehen, warum sie Anjuli davon erzählt hatte. Es war einfach so...

Natalies Hände waren eisig kalt und zitterten. Sie weinte nicht. Es gab kein Gefühl mehr, über das sie weinen konnte.

Anjulis Hand legte sich beruhigend über ihre.

„Ich habe meine Eltern danach noch so oft gesehen,“ sagte sie leise. „Und es war nicht in meinen Träumen. Sie waren da. So, wie sie im Moment ihres Todes aussahen...“

Anjuli zuckte zusammen.

„Ich sehe sie nicht mehr. Ich weiß nicht, ob ich dankbar sein soll, oder mich von ihnen verlassen fühlen möchte...“

Anjuli sagte nichts mehr. Aber in ihrem Gesicht war ein sonderbar alarmierter Ausdruck.

 

Natalie erwies sich als keine große Hilfe beim Einkaufen. Sie war zu nervös und ängstlich. Überall vermutete sie, auf Lea und Marion zu treffen. Aber weder die eine, noch die andere der beiden Frauen waren zu sehen.

Mehr noch. Als Anjuli an deren Haus vorüberfuhr, kroch Natalie halb unter den Sitz.

„Siehst du was? Sind die Bullen da? Rennen die beiden draußen rum?“

Anjuli rollte mit den Augen. „Klar, das GSG9, die Kripo und die Arme sind hier.“

Sie verzog die Lippen. Hör mal, hier ist tote Hose. Niemand ist draußen, nichts besonderes geht da draußen von statten. Okay?“

Natalie entspannte sich etwas. „Hä? Jetzt fehlen ihr drei weitere Kids, und sie unternimmt nichts?“ Natalie richtete sich etwas auf, um aus dem Seitenfenster zu schielen. „Sonst rastet Lea aus, wenn wir nur eine halbe Stunde zu spät von der Schule kommen. So wie gestern Nacht. Und nun?“

Anjuli zuckte die Schultern. „Vielleicht ist sie zur Polizei gegangen...?“

„Mal doch den Teufel an die Wand,“ knurrte das Mädchen.

„Was denn nu?“

Anjuli steuerte den Wagen aus dem Viertel heraus.

„Sag mal, wollen wir auf eigene Faust nach Giovanna suchen?“

 

~to be continued~

 

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(c) Tanja Meurer, 2000