Der Gefangene |
Kapitel 1: ================================================================================ Der
Lärm der großen Baumaschinen kam Luca an diesem Morgen besonders laut und
entnervend vor, obwohl sich nichts zu den Tagen davor verändert hatte. Mit
Ausnahme der Tatsache, dass seit Kurzem zwei von Shelby Moranes Handlangern
hier arbeiteten und zwei andere Männer in die Schreinerei versetzt wurden.
Aber der eine war viel zu schmächtig um für Luca eine Gefahr zu werden und
der andere dachte nicht von hier, bis zur nächsten Türe. Wayne, mit dem er
die ganze Nacht geredet hatte, bis die Frühsirene und die Inspektion sie
unterbrach, wollte sich dafür einsetzten, dass Luca vom Straßenbau weg kam
und ins Lazarett oder die Gefängnisbibliothek versetzt wurde. Dankend, aber
sehr Bestimmt lehnte Luca sein Angebot ab, obwohl es ihn reizte, mit Büchern
zu tun zu haben. Wayne selbst arbeitete für Direktor Albright in der Gefängnisverwaltung. Während
Luca Sand auf den heißen Teer schaufelte, drifteten seine Gedanken zurück
zu den traurigen, eigentlich sanften Augen, die ihn die ganze Nacht hindurch
über die runden Brillengläser angesehen hatten. Aus Wut, Misstrauen und
Ablehnung wurde Sympathie und vorsichtiges Zutrauen. Der Blick Waynes, die
Art wie er Luca betrachtete, wie er sich mit ihm unterhielt veränderte sich
in den wenigen Nachtstunden. Es schien der Beginn einer labilen, noch sehr
schwachen Freundschaft zwischen ihnen. Als Luca erfuhr, dass Wayne wirklich
Anwalt war und er unter anderem auch Philosophie und Geschichte studiert
hatte, begriff er, weshalb Waynes Verhalten kalt und gleichgültig wirkte.
In den Händen dieses Mannes zerbrach seine Welt, sein Leben und er wusste,
dass es kein Zurück geben konnte. Diese Art, wie er reagierte und handelte,
war sein Weg mit den Scherben seiner Existenz umzugehen, sie zu akzeptieren
und zu vergessen, was war. Seine Welt bestand aus Mauern, Schnee, Kälte und
Eisengittern. „Seraphine?“ Luca
sah hoch und erkannte den japanischen Aufseher, der diese Werkstatt leitete.
Der schlanke, kleine Mann fühlte sich nicht wohl, wenn er unfreundlich
werden musste. An sich erschien er Luca immer als äußerst umgänglich, bis
einer der Gefangenen, ein Mexikaner vor wenigen Tagen den Bogen ein wenig überspannte
und sich auf eine Diskussion mit Murakami einließ. Zur
Zeit erfreute der Mexikaner sich an einem Aufenthalt im Lazarett. Dieser
kleine, schmale, sympathische Mann hatte den nicht weniger kleinen, aber
dreimal so breiten Mexikaner mit einem Schlag den Unterarm gebrochen. „Mr.
Murakami, Sir?“ fragte Luca, der nicht so recht wusste, was er davon zu
halten hatte. Bislang hatte er still seine Arbeit erledigt und der Japaner
ließ ihn dafür in Ruhe. „Sie
haben Besuch, Mr. Seraphine.“ Luca hob verwundert die Brauen. Es gab
niemand, der ihn hier besuchen konnte oder wollte. Bis auf das kleine Mädchen
hatte er keine Familie und seine wenigen Freunde hatten sich in alle Winde
zerstreut. Genaugenommen hatte er sie aus den Augen verloren. Viele von
ihnen lebten, wie er einst, in Deutschland, oder wenn nicht dort, doch
zumindest in Europa. Und dort wurde das Pflaster für solche wie ihn oder
seine Freunde zu heiß und zu gefährlich. Seit der Bücherverbrennung vor
einem Monat dort stand spätestens für Luca fest, dass der kleine Mann mit
dem seltsamen Schurrbart und der fanatischen Stimme der Untergang aller
andersartigen und Freidenkenden war. Hitler, der deutsche Reichskanzler...
Wen seiner Freunde hatte es in diese Land und damit auf seine Spur
verschlagen? „Murakami-san?“
Luca hielt dem Aufseher seine Handgelenke entgegen. „Darf ich mir die
Frage erlauben, wer mich zu sehen wünscht?“ Er
hatte den Japaner in seiner Heimatsprache angesprochen, ganz unwillkürlich.
Luca war es selten bewusst, wenn er so etwas tat. Schließlich hatte er
lange Zeit in Japan und vielen anderen Ländern gelebt, um die Sprache wie
seine Muttersprache zu sprechen und zu begreifen. Murakami
sah ihn misstrauisch an. „Schweig, Gefangener!“ Luca
senkte den Blick und ließ sich wortlos zu einem der Transport-LKW’s führen. Wortlos
legte Luca die Schaufel nieder und stand auf. Fast automatisch streckte er
Murakami Auf
dem Weg zurück zum Gefängnis schwieg Luca und auch Murakami starrte nur
den Boden zwischen seinen Füßen an. Cauldfield fuhr den Wagen und hätte
vermutlich eine Unterhaltung mitbekommen. Murakami wollte reden. Das sah
Luca von Anfang an in seinen Augen. Manchmal fühlte Luca, wie ihn der Blick
des Japaners immer wieder streifte. Luca
spürte, wie seine Handschellen immer wieder über seine Handgelenke
rutschten. Der Japaner hatte sie viel zu locker geschnallt. Wenn er wollte hätte
er die Handschellen einfach abstreifen können. Was
wollte Murakami nur? Seine Ehre testen? Nein,
den Gefallen zu fliehen und von hinten erschossen zu werden, würde Luca ihm
tun. Vielleicht war das ja der Grund? Farlans Rache? Nein. Sicher nicht.
Farlan war sicher nicht so... Shelby? Was ging hier vor? Das
anfängliche Misstrauen manifestierte sich zu einer bösen Vorahnung. Er
würde nicht kampflos aufgeben! Auf
dem Weg zum Gefängnis geschah nicht das geringste, wenigstens nicht in
dieser Hinsicht. Es
war furchtbar kalt und de Boden gefroren. Luca dachte wehmütig an die
warmen Sommer in Deutschland, an das kleine, dunkelhaarige Mädchen, dass
mit ihm über die Sommerwiesen tobte, ein so zauberhaftes, kleines Ding und
ihr etwas älterer Bruder... Es duftete nach Blumen, gemähten Wiesen und
Obst. Er hörte das Lachen dieser Kinder, hörte das Summen der Bienen und
den Gesang der Vögel. Er erinnerte sich daran, wie sie auf Claudes Terrasse
saßen und dem Klavierspiel des alten Mannes lauschten, und wie seine beiden
kleinen sangen und im Herbst zum Lichterfest... Seine
beiden armen Kinder, Claude... Er spürte, wie sich sein Herz verkrampfte.
Deutschland war kein guter Ort für Juden. Insgeheim betete er darum, dass
Claude seine beiden Kinder aus dem Weisenhaus geholt und aus Deutschland
geflohen war. Seine
Gedanken waren erfüllt mit den Sorgen um seine Kinder... Seine geliebten
Kinder... Er
vergaß darüber völlig, seine Ängste vor Farlan und Shelby. Murakami
musste ihn zweimal ansprechen, schlug ihn sogar mit seiner Reitpeitsche,
bevor Luca aus dem Wagen stieg und zwischen ihm und Cauldfield das
Zentralgebäude betrat. Die
ganzen letzten Monate hatte Luca die Gedanken an seine kleine Familie verdrängt,
ja sogar wissentlich dafür gesorgt, dass Claude mit seinem Jungen zurück,
nach Deutschland ging, um ein Auge auf seine kleinen Anna zu haben... „Luca?“ Erschrocken
sah dieser Cauldfield an, der rechts von ihm ging. „Was...?“ „Sag’
mal, warum bist du überhaupt nach Amerika gekommen?“ Luca
seufzte tief. „Um den Mann zu finden, der meinem kleinen Mädchen soviel
schlimmes antat ,Sir.“ Cauldfield
sah ihn verwirrt, fragend an. „Du musst dich bei mir nicht so steif
benehmen. Ich will wirklich wissen, was einen lieben Kerl wie dich in diese
Lage brachte.“ „Ich
habe vor knapp fünf Jahren zusammen mit einem Freund zwei Kinder adoptiert.
Jüdische Kinder. Wir haben die beiden Kleinen gemeinsam aufgezogen. 1931
gab es einen Irren, der kleine Kinder, kleine Mädchen, entführte,
vergewaltigte und verstümmelte. Viele der Kinder hielten das nicht durch.
Fast alle starben an ihren Verletzungen. Die meisten bevor man sie fand,
einige erst danach, im Krankenhaus. Anna, mein Kind, war sein letztes Opfer.
Er hatte sie drei Monate in seiner Gewalt. Als ich sie endlich befreien
konnte, war sie halb tot. Er hatte sie immer und immer wieder vergewaltigt
und sie so schwer geschlagen, dass Annas Wirbelsäule brach. Ihre Schädeldecke
war aufgebrochen durch schwere Schläge. Sie Wurde mit dem Kopf immer wieder
gegen eine Wand geschleudert. Sie hat schwere Schäden davon getragen. Sie
kann auf einem Auge nicht mehr sehen und hat epileptische Anfälle. Die Ärzte
haben sie für schwachsinnig erklärt. Reicht das als Grund für das, was
ich getan habe?!“ Er zitterte am ganzen Leib. Dieser hilflose Zorn und
Hass, der ihn auf seiner Jagd ständig voran trieb, erfüllte seine Worte.
„Für mich war Annas Untergang Grund genug, dieses Monster zu jagen und zu
töten. Ich habe bis heute nie zugelassen, dass man einem Kind etwas
antut...“ Tränen
rannen über seine Wangen. Cauldfield strich ihm beruhigend über die
Schulter. „Ich habe auch eine Familie und fünf Kinder. Wenn das einem
meiner Kinder geschehen würde, würde ich keine Sekunde zögern und das
selbe tun.“ Luca
sah ihn aus tränenverschleierten Augen an. „Haben sie je einen Menschen
getötet?“ Cauldfield
sah ihn beinah erschrocken an. „Nein.“ „Es
ist nicht einfach, Mr. Cauldfield. Selbst wenn man noch so sehr hasst.“ Murakami
hatte bis eben noch geschwiegen. „Sie können nicht hassen, Luca.“ Es
klang gepresst, fast ein wenig herablassend. Aber Luca musste ihm zustimmen.
Hassen konnte er nicht. Nie wirklich. Vielleicht eine Schwäche, vielleicht
eine Stärke. Den
Rest des Weges legten sie schweigend zurück. Solang wie Luca nun bereits
hier einsaß hatte er doch noch nicht einmal den Besuchsraum gesehen. Ein
einziger, großer Raum mit verschiedenen Tischen, an denen Leute in
einfachen Straßenkleidern saßen und Männer in der groben Gefängniskleidung.
Frauen jeden Alters, Jungen und Mädchen, alte Leute... Einige der abgebrühtesten
Kerle saßen hier, selig lächelnd die Hände ihrer Frauen in ihren, mit
leuchtenden Augen die spielenden Kinder beobachtend... „Papa!“
Luca folgte der Stimme. An einem der Tische saß ein kleiner junge, höchstens
sieben oder acht Jahre alt, mit dunkelbraunen Haaren und dunklen Augen. Sein
blasses Gesicht war von außergewöhnlich feinem Schnitt und so rein und schön...
Er trug kurze Hosen und lange, dicke Wollsocken, ein Hemd, eine Weste und
eine Jacke. Neben ihm, neben seinem Stuhl stand ein schlanker,
hochgewachsener Mann mit silbernen Haaren und einem ähnlich fein
geschnittenen Zügen. Er trug eine Brille und noch immer seinen Hut und den
Mantel. Über dem Arm hielt er ein Cape aus dickem Wollstoff. In einem
Rollstuhl saß ein kleines Mädchen, fast der Zwilling des Jungen, nur ein
wenig jünger. Ihr langes Haar lag in weichen Locken über ihrer Brust. Eine
große Schleife zierte ihren Hinterkopf. Das Einzige, was dieses Bild störte,
war die Augenklappe, die sie trug. „Anna?“ wisperte Luca . “Und Jacque und Claude.” Der
kleine Junge sprang auf und rannte zu Luca hinüber. Cauldfield schloss
eilig Lucas Handfesseln auf, aber nicht schnell genug. Der Junge erreichte
Luca noch zuvor. „Hör’
mal Jacque, willst du mich umwerfen?“ Luca drehte sich lachend um und pflückte
seinen Jungen von seinen Beinen. „Darf ich ihn in die Arme nehmen, Mister
Cauldfield?“ Der
Mulatte lächelte und nickte. „Ich wäre enttäuscht von dir, wenn
nicht.“ Luca
hob den Jungen hoch, wie eine kleinen Puppe und schloss ihn fest in die
Arme. „Jacque mein Kleiner, wie habe ich dich vermisst,“ flüsterte er
und schloss ihn fest in die Arme. Der kleine
Junge umarmte Luca und bedeckte seine Wangen mit Küssen. „Papa, du fehlst
uns so. Ich vermisse dich, und Grandpere Claude auch. Anna ist wieder bei
uns. Grandpere hat uns aus dem Weisenhaus geholt und ein paar Freunde haben
uns geholfen nach America zu kommen und...“ Luca legte ihm den Zeigfinger
behutsam über die Lippen. „Sht, Jacque. Ruhig,
mein Schatz. Lass uns zu Anna und Großvater gehen. Dann kannst du mir alles
erzählen.“ Cauldfield
stand hinter Luca und Murakami rechts neben ihm. Vermutlich verstanden beide
kein Wort von dem deutsch französischen Redeschwall des Jungen, der nun auf
Lucas Knie saß und ihn mit Hunderten Informationen berieselte. „Luca,“
Claude nahm seine Hand und drückte sie fest und liebevoll. „Wir haben es
in Deutschland nicht mehr ausgehalten. Du, so weit weg von uns, und wir
werden boykotiert. Seit dem 1. April gibt es einen landesweiten Boykott
gegen jüdische Geschäfte... Und man erzählt sich von Lagern... Lager in
die man uns bringt und...“ „Ruhig, Claude,“ bat Luca sanft.
„Ihr seid nun hier. Und damit sicher. Ihr bleibt hier, in Amerika und
sucht euch hier ein zu Hause. Ich werde hoffentlich nicht ewig hier sein.
Dann komme ich zu euch und wir werden wieder eine Familie sein, wie es
war.“ „Wie
lang wirst du noch hier bleiben Papa?“ Der kleine Jacque kuschelte sich an
Lucas Brust und schnurrte wie ein Kater, als dieser seinen Nacken kraulte.
Luca antwortete nicht. Er genoss die nähe des Kindes, dass er als seinen
Sohn anerkannte. Nur Annas Blick, die Angst darin und die Scheu vor den Männern
um sie, traf ihn wie ein Dolchstoß. Behutsam streckte er seine Hand nach
der Annas aus. Sehr langsam und vorsichtig Ihr
unversehrtes Auge erfasste die Hand, die sich ihr näherte und bohrte sich
dann in Lucas Blick. „Anna, Liebes,“ murmelte Luca verzweifelt.
„Erkennst du mich nicht?“ Claude
legte seine Hand erschrocken über Lucas und sah sich nervös um. Nun
bemerkte auch Luca, dass alle Gespräche verstummt waren und die Augen aller
sich auf sie richteten. Verzweifelt schloss Luca die Augen und zog seine
Hand zurück. Claude ließ ihn los. Auch er hielt den Blick gesenkt,
traurig. „Papa?“
Jacque zog Luca an seinem Hemdkragen. „Wann bist du wieder bei uns?“ Luca
streichelte über Jacques Haare und küsste seine Stirn. „Noch eine Weile.
Aber vielleicht dürft ihr mich öfter besuchen. Vielleicht.“ Er sah
Cauldfield und Murakami an. „Darf meine Familie mich besuchen?“ fragte
er in englisch. „An
den Besuchstagen immer,“ lächelte Cauldfield. „Du hast eine hübsche
Familie. Glaub mir, Junge, für diese zwei Kinder hätte ich auch alles
getan.“ „Das
entschuldigt nichts,“ sagte Luca ernst. „Im Gegenteil. Ich habe dadurch
nichts gewonnen, sondern auch noch meine Freiheit verloren, nicht nur meine
Tochter und meine Familie. Und mein Land.“ Murakamis
Gesicht war eine Maske, aber seine Augen sahen so sanft und freundlich
drein. Plötzlich
lächelte Anna abwesend. „Warte nur ein kleines Weilchen, dann kommt der
schwarze Mann zu dir. Mit seinem Hackebeilchen macht er Schabefleisch aus
dir...“ sang sie. Luca
schauderte unter diesem Abzählreim. Warte... warte nur ein kleines
Weilchen, dann kommt der schwarze Mann zu dir und mit seinem Hackebeilchen
macht er Schabefleisch aus dir...“ Jacques
Augen füllten sich mit Tränen und er presste die Hände über die Ohren. „Papa,
mach, dass sie aufhört!“ Luca
nahm seinen Sohn in die Arme und barg sein Gesicht an seiner Brust. „Anna,
hör auf,“ bat Claude eindringlich. „Bitte sei still!“ Luca
nahm Jacque auf den Arm und erhob sich. Vielleicht war es seine einzige
Chance Anna wieder zurückzugewinnen. Wortlos kam er um den Tisch herum und
kniete neben ihr nieder. Behutsam nahm er sie in den Arm. „Anna,“
wisperte er. „Warte
nur ein kleines Weilchen...“ Ihre Stimme erhob sich fast panisch, wie ein
Hilfeschrei. „...dann kommt der Schwarze Mann zu dir!“ Sie schrie
bereits. Ihr eines Auge hatte sich entsetzlich in irrer Panik geweitet. Ihre
Hände bewegten sich unkontrolliert und öffneten und schlossen sich
panisch. Sie jappte nach Luft, kurz vor der Hysterie. „Mit seinem
Hackbeilchen...“ Luca
hielt sie fest, hielt Jacque, der seine Arme um Lucas Hals geschlungen hatte
und sein Gesicht an seinem Hals verbarg und leise weinte. Luca
musste sich nicht umsehen um zu wissen, dass alle Wachen in dem Raum
aufhorchten und ihn anvisierten, auf ihn anlegten und einige sich bereit
machten, um sich auf ihn zu stürzen. „Ich
liebe euch beide, Anna, Jacque, ihr seid meine Kinder, und ich schwöre dir,
dass ich nie wieder zulasse, dass man euch wehtun wird...“ flüsterte er. „...
und macht Schabefleisch aus...“ Anna versteifte sich in Lucas Arm und
zugleich verstummte sie. Wie eine Leblose Puppe sank sie gegen Lucas
Schulter. Luca
hielt sie, so leicht und zärtlich, wie er es gerade konnte. „Anna,
Liebes, gib nicht auf.“ Cauldfield
legte Luca die Hand auf den Arm und drückte sanft zu. Als Luca aufsah,
erschrak er zutiefst. Alles starrte ihn an. Nur Murakami und Cauldfield
hielten die anderen Wachen davon ab, Luca zu Boden zu knüppeln und ihn
sofort in Einzelhaft zu verbannen. „Luca...“
flüsterte Annas Stimme. „Wunderschöner Luca, mein geliebter,
zauberhafter, schwacher Luca, mein Bruder, Anna gehört nun mir. Ihre Seele
ist fort und ihr Leib wird mein sein. Und du... kannst gar nichts dagegen
tun.“ Eine Hand griff nach Lucas
Schulter und rüttelte ihn unsanft in die Realität zurück. Graue
Dunstschwaden zerrissen schwer, wie ölig, schleimige Weben. Langsam fand er
in die Wirklichkeit. Und mit jeder Sekunde verstärkte sich ein gleißend
scharfer, heißer Schmerz, der sich durch seine Augen in seinen Schädel fraß.
Er spürte den harten, kalten Linoleumboden unter seinem Körper, die Glätte
und den feinen Staub. Was, um Gottes Willen, war nur geschehen? Er musste
Ohnmächtig geworden sein, lang genug, um einen sinnlosen, abstrusen Traum
zu haben... Murakami kniete halb über ihm,
schüttelte ihn an der Schulter, während Silverstone sein langes Haar, was
sich auf irgendeinem Weg gelöst hatte, aus dem Gesicht strich. „Mein Gott, Junge, was ist
denn nur mit dir los?“ rief der alte Mann. Sein strähniges, weißes Haar
fiel ihm in die Stirn. Wortlos stand Murakami auf, stellte sich breitbeinig
hin und streckte Luca seine Hand entgegen. Unsicher, mit zitternden
Gliedern, richtete sich Luca auf und gestattete Silverstone, dass dieser ihn
ein wenig stützte. „Ich weiß es nicht, Miles,“ flüsterte er. „Ich
weiß es nicht. Seine eigene Stimme klang hölzern in seinen Ohren,
gebrochen und irgendwie falsch. Dieser Ort würde ihn zerstören, wenn er
sich zu sehr in seine Alpträume ergab und seiner Angst nachgab. Murakamis Hand lehnte er ab. „Wie bin ich hier herein
gekommen?“ „Wir bringen dich ins
Lazarett,“ sagte der Japaner. Luca schüttelte matt den Kopf. „Nein,
Sir. Ich bin okay.“ Der Japaner blinzelte unsicher.
„Sicher, Seraphine?“ Nicken konnte Luca nicht mehr.
Ihm war speiübel und sein Schädel fühlte sich an, als habe ihm jemand
Dolche in seine Schläfen und durch seine Augen gerammt. „Ja, Sir,“ flüsterte
er. „Cauldfield, bringen wir
diesen Mann zur Krankenstation!“ sagte Murakami. Es klang wie ein Befehl
Der Mulatte kniete neben Luca nieder und zog die Handschellen aus der
Schlinge in seinem Gürtel. „Das wird nicht nötig sein,“ sagte Murakami.
„Der Mann ist kaum noch in der Lage, zu laufen.“ Cauldfield nickte wortlos und
Luca spürte, wie die Hände der Aufsehers unter seinen Armen
hindurchgriffen und ihn stützten. Wieder wisperte eine schwache
Kinderstimme diesen perversen Abzählreim... „Wunderschöner Luca, mein geliebter, zauberhafter, schwacher Luca, mein Bruder, Anna gehört nun mir. Ihre Seele ist fort und ihr Leib wird mein sein. Und du... kannst gar nichts dagegen tun.“ Für eine Weile verschwamm die
Wirklichkeit wieder vor Lucas Augen und dann, ganz unerwartet schoss es wie
ein schwarzer Blitz durch sein Bewusstsein und riss ihn zurück in eine
tiefe Ohnmacht, aus der es ihm nicht gelang hervor zu kommen. Lucas Körper erschlaffte in
den Armen der Aufsehers. Murakami, obgleich viel kleiner, fiel es nicht
schwer, das geringe Gewicht des Mannes abzufangen und ihn wieder zu Boden
gleiten zu lassen. „Silverstone, du hast doch
die Zelle neben Seraphine,“ fragte der Japaner. „Ist dir nichts
aufgefallen?“ „Eben habe ich gemerkt, dass
er fiebert. Er ist unterernährt und isst fast nichts. Gestern Nacht hat
Farlan ihn zusammenschlagen lassen. Vielleicht ist da was passiert...
Himmel, Murakami, ich bin kein Arzt!“ „Rufen sie den Arzt hier her,
Cauldfield.“ Der Aufseher bettete Lucas Kopf behutsam auf dem Fußboden
und ging wortlos zu dem Telefonapparat in dem Besucherraum. Seltsam, dachte
er. In der Sekunde hätte eine Feder zu Boden fallen können und es wäre
wie ein Tornado, ein Erdbeben gewesen. Niemand sprach, niemand regte sich,
außer Silverstone, Murakami und ihm selbst... Und dann dieser fahle, zarte
Mann, der sich in seinen Armen anfühlte, wie eine Porzellanpuppe, die bei
einem falschen Griff kaputt gehen konnte, dessen weißes Gesicht von dem
dichten, pechschwarzen Mantel aus Haar umrahmt wurde, dessen ganzer Körper
so fein war... „Mister Farlan, Cauldfield, Bitte, wir brauchen einen Arzt
in Besucherraum 2, schnell!“ „Für jemand, der Unterernährt
ist, wie sie, Mr. Seraphine, sind sie außergewöhnlich gesund.
Bemerkenswert, junger Mann. Aber sie sollten wirklich ein wenig mehr essen.
Der Ohnmachtsanfall lässt sich einzig darauf zurückführen. Bei der harten
Arbeit. Sie sind bei denen, die draußen arbeiten, nicht?“ Luca sah ihn kurz an und zog
sein Hemd wieder an. Neben ihm lag seine Jacke mit dem dicken Innenfell.
„Ja, Straßenbau.“ Der Arzt, ein Mann um die fünfzig,
und genauso schwarz wie Cobe, sah ihn über den Rand seiner Brille an.
„Straßenbau. Junge, damit bringen sie sich nach und nach um. So ein
schmales Kerlchen wie sie müsste in der Küche oder der Bibliothek
arbeiten, jedenfalls nicht in der Kälte da draußen. Steine schlagen, und
Wege begradigen, Straßen absanden...“ Er rückte sich die Brille zurecht,
als Luca nun auch seine Jacke wieder anzog und Murakami seine Hände
entgegenstreckte, damit dieser die Handschellen wieder anlegen konnte. „Hören sie, Sir,“ sagte
Luca leise. „Da draußen weiß ich wenigstens, dass es noch etwas anderes
gibt als Mauern, und dass das Leben weiter geht, auch wenn ich hier drin
bin.“ „Eine sehr egoistische
Meinung,“ sagte der Arzt. Seine dichten grau-schwarzen Brauen zogen sich
ein wenig zusammen und er sah ihn ärgerlich an. „Vielleicht,“ sagte Luca.
„Aber man denkt anders, wenn man frei ist, Sir.“ Murakami nahm Lucas Arm. Widerstandslos ließ er sich
von dem Japaner und Cauldfield aus dem kleinen Arztzimmer hinausführen. „Luca, warum bist du plötzlich
umgekippt?“ Cauldfield sah zu ihm hoch.
„Wenn du umgekippt wärst, während du draußen am Arbeiten warst, das hätte
ich verstanden.“ Sie bogen um eine Ecke und
verließen den Verwaltungs- und Lazarett-Trakt über einen schmalen Gang,
der die neuen Gebäude mit dem alten Hauptbau verband, einer schmalen, im fünften
Stock liegenden Brücke aus Glas und Stein und Stahl. Luca sah hinaus, in
die kalten, bewaldeten Hügel und die ausgedehnten Felder, die einzig und
allein Kartoffeln und Steine hervorbrachten. In einiger Entfernung sah er
einen kleinen Teich und einen Bachlauf, der im Wald verschwand. Aber dieses
Bild hatte etwas hoffnungsloses, graues, diffuses, was ihn zu erdrücken
suchte. Etwas, dass mehr als alle Wachtürme, die Zäune und Mauern nach
seinem Herzen griff und ihm klarzumachen suchte, dass er hier genauso gut
begraben sein konnte. „Vergessen sie den Gedanken
an Ausbruch,“ sagte Murakami, der seinen Blick wohl falsch gedeutet hatte.
„Ihre Kinder brauchen einen Vater, keinen Toten.“ „Ich werde nicht fliehen.“
Er wendete sich Murakami zu. „Meine Kinder...“ Er verkniff sich die
Frage, die ihm auf der Zunge lag. War das alles kein Traum? Hatte er sein
Kinder gesehen? Anna? Hatte sie zu ihm gesprochen? Seit einer Weile
verwischten die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit stärker, seit einer
Weile, seit er von dem schwarzen Engel träumte. Wenn Claude und seine beiden
kleinen Engel hier waren, dann hatte sie das wirklich gesagt?! Luca wurde
schwindelig. Eisige Kälte ergriff sein Herz, Angst. „Luca,
wunderschöner Luca, mein geliebter, zauberhafter, schwacher Luca, mein
Bruder, Anna gehört nun mir. Ihre Seele ist fort und ihr Leib wird mein
sein. Und du... kannst gar nichts dagegen tun.“ Celina. Der schwarze Engel in
seinem Traum. Nie hatte er den Engel genau gesehen, immer nur auf die
Entfernung hin. Seine Hände zitterten. „Was hast du, Luca?“ fragte
Cauldfield. „Gehen sie weiter,
Seraphine.“ Offenbar war er stehen
geblieben, denn Murakami schubste ihn weiter. „Entschuldigung,“ murmelte
Luca abwesend und ließ sich von Cauldfield führen. „Wir sollten ihn in seine
Zelle bringen. Heute macht der Junge nicht mehr viel, Murakami.“ Der Japaner sah Luca an, prüfend,
kühl. In seinen harten Zügen erschien eine Frage, aber zugleich auch
Abscheu. „Er ist schwach. In seiner Zelle dürfte er sicher aufgehoben
sein.“ „Ich kann arbeiten,“
murmelte Luca. Cauldfield schüttelte
entschieden den Kopf. „Nein. So fertig, wie du bist, wirst du mir draußen
zusammenbrechen. Die Begegnung mit deinen Kindern hat dich völlig fertig
gemacht, nicht? Du hast sie zum ersten mal seit einem Jahr widergesehen und
sie sollten dich nicht so sehen.“ Luca antwortete nicht gleich. Er erinnerte sich an den Tag,
als er Annas geschundenen Leib in einem alten Abrisshaus fand, in den
Kellern des Hauses, mit Ketten an die feuchte Wand gefesselt, mit blutüberströmtem
Gesicht und blutverkrustetem Haar. Mehr als an das Bild erinnerte er sich an
den Gestank nach faulendem Wasser, Rost, Blut, Schimmel, Urin und Kot. Im Lauf seines Lebens hatte er
viel vergleichbares gesehen. Dennoch schockierte ihn ein solcher Anblick
immer wieder. Dieser Moment, als er Annas Körper befreite, als sie in seine
Arme fiel und er dieses winzige Mädchen hielt, dieser Moment, in dem sein
ganzes Leben in Scherben zerbrach... ihr Leben, hatte sich in seinen Schädel
eingebrannt und es verfolgte ihn jeden Moment. Insbesondere die Gewissheit,
dass sie ihr Leben verlor, bevor es begann. Auch wenn sie lebte, so war doch
ihr Körper nichts als ein leeres Gefäß, in dem irgendwo, weit entfernt
ein winziges Stück ihrer Seele unter einer erdrückenden Masse an Angst
verborgen lag. „Ich habe meine Kinder am 11.
November 1931 zum letzten Mal gesehen. Claude hat mich begleitet, auf der
Suche nach Anna, immer, bis zum bitteren Ende...“ Er stockte und schüttelte die
Erinnerungen ab. Er wollte nicht darüber reden, und doch tat es gut. Es
half ihm. Nur reden wollte er nicht weiter darüber. „Ihr Schicksal ist verdorben
und böse,“ murmelte der Japaner in seiner Sprache. „Was haben sie
getan, dass es so ist?“ Sie gingen durch eine grün
gestrichene Türe, durch einen Flur mit grauem Linoleumboden, an den Werkstätten
vorüber und durch den großen Speisesaal. Luca wollte nicht mehr antworten.
Was Murakami gesagt hatte, stimmte und zugleich nicht. Erst als sich seine Zelletüre
schloss, antwortete Luca dem Japaner. „Ich folge meinem Herzen.“ Lang saß Luca einfach nur mit
untergeschlagenen Beinen auf dem Bett, die Augen geschlossen, den Hinterkopf
an die Wand gelehnt. Auf seinen Knien lag sein Zeichnblock und der Bleistift
daneben, halb unter der Decke. Er konnte noch immer nicht
begreifen, dass Anna und Jacque hier waren und Claude, sein lieber guter
alter Freund Claude. Schlimmer, er wusste nicht, was er gehört hatte. Ob es
wahr war oder ob er ihre Worte nur geträumt hatte. Das Mädchen... Anna,
Celina... Luca wendete den Kopf und hob
die Lider. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er weinte. Tränen rannen
unaufhaltsam über seine Wangen. Wortlos, lautlos, ganz im Gegensatz zu
diesem grellen, gleißenden Schmerz in seiner Seele und der Unsicherheit,
dem Zweifel an seinem Verstand. „Verdammt!“ Er öffnete die
Augen und sah Farlan vor seiner Zelle stehen. „Begrüßt du so einen
Freund, Luca?“ fragte er leise. Seine Hände schlossen sich um die
Gitterstäbe und er lehnte die Stirn dagegen. „Das gestern Nacht...“ Er schluckte und verstummte.
Sein Blick wich Lucas aus. „Sie sollten sich mir gegenüber
nicht rechtfertigen, Sir,“ sagte Luca leise und stand vom Bett auf. Plötzlich
verwandelte sich sein Ekel vor Farlan in Mitgefühl. Ein Mann wie er dürfte
nicht kriechen. Vor niemandem. Behutsam legte er seine Finger
über die Farlans. „Schon gar nicht vor mir.“ Farlan hob den Kopf. Ihre
Gesichter waren sich so nah, dass Luca Aaron Farlans Atem auf seiner Haut spürte.
Seine hellen Augen waren so unsicher und nervös. Er zitterte. Schweiß
perlte auf seiner Stirn... Luca spürte, wie angespannt Farlan war. „Sie sind
mein einziger Freund hier,“ sagte Luca leise. „Dafür und für ihren
Mut, zu mir gehalten zu haben, gegen Shelby und alle anderen, danke ich
ihnen.“ Luca wusste zu gut, wie gefährlich Farlan war, wenn er unter
dieser Anspannung stand, solche Angst hatte. Ein falsches Wort, Angst,
konnten Farlans Verstand kippen. Freude hatte er hier einige. Cauldfield, Wayne,
Silverstone, Murakami… Aber Aaron Farlan war fertig, am Ende seiner Kräfte und seiner
Beherrschung. Luca hatte Dinge gesehen, die er nicht sehen sollte, Farlan
von einer Seite kennen gelernt, in der er nicht mehr Lucas Beschützer war,
sondern etwas, dass er selbst verachtete, ein triebhaftes Tier. Und
schlimmer als das, der, vor dem Farlan ihn beschützen wollte, Wayne
O’Reily, rettete Luca vor Farlan. „Luca, schöner Luca...“ Er
sah Luca lange Zeit an. „Du weinst. Habe ich dir wehgetan?“ Er löste seine Hand von den
Gittern und streckte sie hindurch, strich behutsam über Lucas Wange, strich
die Tränen fort. „Ich werde es nicht mehr tun. Nie mehr wieder. Ich will
nicht, dass du je wieder wegen mir weinst.“ Er flüsterte. Sein heißer
Atem strich über Lucas Haut, versengte sie... Farlans Verlangen darin war
kaum mehr zu ignorieren. Dennoch schien er sich gut genug unter Kontrolle zu
haben, denn er lächelte und zog sich etwas zurück. Seine Finger
streichelten Lucas Haar und zogen eine Strähne durch die Gitter, ließen
sie durch die Finger gleiten... „Du bist so unstofflich und
irreal, wie ein Traum. Und ich will dich gar nicht anders, denn sonst wirst
du entweder wie glas zerbrechen, oder du wirst zu einem richtigen
Menschen.“ Er lächelte noch einmal und
drehte sich um. Mit schnellen Schritten ging er über den Steg und
verschwand aus Lucas Blick. Entsetzt drehte sich Luca um
und ließ sich gegen die Stäbe seiner Türe sinken. „Das ist eine
verdammte Mausefalle!“ Ein Geräusch weckte Luca aus
seiner Benommenheit, seinem Halbschlaf. Wayne betrat die Zelle.
Er sah zu Luca hinab und nahm den Zeichenblock auf. „Du warst
Tagesgespräch,“ sagte er langsam, während er das Bild betrachtete. Während
Luca sich aufsetzte, schüttelte Wayne bereits den kopf. „Deine Träume
will ich gar nicht haben.“ Dennoch strich er beinah zärtlich
über das Profil des blond gelockten Mädchens, dessen Gesicht so unschuldig
und rein wirkte, hinter dessen Augen sich aber das Wissen und der Hass von
Jahrtausenden befand und der Wahnsinn in Reinform. „Das ist nicht deine Tochter,
oder?“ Wayne sah ihn direkt an. Lucas Blick suchte auf dem
Blatt, dass eine Unzahl Skizzen beherbergte nach dem seelenvollen, ruhigen
Gesicht, nach den dunklen Augen und dem dunklen Haar Annas. Es war eine
winzige Skizze eines winzigen Kindergesichtes. „Das ist Anna.“ Er erschrak fast. Er hatte sie
mit seiner Zeichnung an eine Wand gefesselt, in fauligem Wasser und in einem
uraltem Haus. „Anna...“ „Wer ist das andere Mädchen?“
fragte Wayne. „Das Mädchen mit dem hellen Haar und den Flügeln?“ „Celina, meine Schwester. Der
Fluch meines Lebens, wenn du es so willst.“ Er lächelte böse. „Auf sie
aufzupassen war, wie einen Piranha zu streicheln. Sie war so rein und schön
wie eine Porzellan-Puppe und so verdorben und böse wie...“ Luca schüttelte
die Vorstellung von dem Engelsgesicht ab. „Sie hat viel in deinem Leben
kaputt gemacht, hm?“ Luca legte sich zurück und
starrte die alten Bettfedern über sich an. „Verzeih, wenn ich dir die
Antwort schuldig bleibe, wenigstens bis auf weiteres.“ Wayne nickte. „Akzeptiert,
aber irgendwann treibe ich diese Schuld ein, okay?“ Das heiße Wasser tat so gut
auf Lucas Haut. Ihm war gar nicht bewusst geworden, wie kalt es eigentlich
war, und dass er fast die ganze Zeit gefroren hatte. Um ihn herum riefen die Männer
durcheinander, stritten sich um die Seife oder um ihre Handtücher,
verschoben Zigaretten und Whisky und prügelten sich oder befriedigten sich
zu imaginären Frauen oder Filmdiven, je nachdem. Die Vorstellung einer Mae West,
oder einer Fay Wray mochte verlockend sein, aber nicht für Luca. Ihn
interessierten die beiden Superblondinen nicht. Dennoch schienen sie der
Inhalt vieler Träume hier zu sein. Oder Gloria Swanson... Luca lehnte sich
mit dem Rücken gegen die Wand und beobachtete die anderen Männer.
Silverstone handelte gerade mit einem der anderen wegen ein paar Zigaretten,
Tozzi hatte sich mit einem seiner Landsmänner wegen einer Frau in die Haar
bekommen und die beiden stritten in einer unsäglichen Lautstärke und einem
Tempo, dass beachtlich war. „Um was geht es denn bei
denen?“ Luca blinzelte und sah
O’Reily an. „Sophia heißt die Schöne. Eine gemeinsame Bekannte,“
sagte Luca lächelnd. „Tozzi und Corelli streiten sich gerade darum, wer
sie mehr beeindruckt hat und wie viel mal.“ Er schüttelte lächelnd den
Kopf. „Vermutlich gehen sie als Freunde hier raus.“ O’Reily schnaubte und wusch
sich die Seife aus den Haaren. „Italiener. Sie sind schon
ein nettes Völkchen.“ Luca lachte. „Lass das die
beiden nur nicht hören.“ „Die sind genauso eine
Fehlbesetzung hier wie wir beiden und der kleine Kerl da.“ O’Reily deutete auf einen
jungen Mann mit dunkelroten Haaren. Er war wirklich klein und zierlich wie
ein Mädchen. Luca konnte der Junge gerade bis zur Schulter reichen, wenn überhaupt.
Er hatte ein schmales, androgynes Gesicht und volle Lippen. Aber besonders
seine wütenden, verletzten Augen verwirrten und verzauberten Luca. Dieser
Blick... und die Dunkelheit, die sich darin verbarg... Luca betrachtete ihn eine
Ewigkeit lang, fasziniert, berauscht von ihm... „Das ist der Junge, dem du
gestern nacht geholfen hast,“ bemerkte O’Reily. „Jack Stone ist sein
Name. Ein Dichter. Genauso ein Träumer wie du.“ „Er hat Angst.“ O’Reily hob die Brauen.
„Woran siehst du das?“ „Diese Wut in seinem Blick,
das ist nichts anderes als blanke Angst.“ Luca stieß sich von der Wand
ab. Plötzlich wurde er herumgerissen und zu Boden gestoßen. Sein
Hinterkopf kollidierte unsanft mit der Wand. Augenblicklich explodierte
grausamer Schmerz zwischen seinen Schläfen. Blutige Nebel verschleierten
seinen Blick. Am Rande seines Bewusstseins hörte er Schreie und laute
Stimmen, spürte das heiße Wasser und sein nasses, langes Haar, was sich um
seinen Körper geschlungen hatte. Er schmeckte Blut auf seiner
Zunge... Bevor er sich aufrappeln
konnte, lies sich jemand auf ihn fallen, so schwer, dass es Luca im ersten
Moment die Luft aus den Lungen trieb. Noch einmal verlor Luca fast das
Bewusstsein. Aber das allein reichte, seine Reflexe erwachen zu lassen. Er
riss beide Arme hoch und blockte den Schlag, der sein Gesicht treffen
sollte. Es war fast, als habe er bei dem ersten Angriff keinen Schaden
davongetragen. Wütend wehrte er auch den zweiten Schlag ab und schmetterte
seinem Angreifer die Faust unter das Kinn. Der andere heulte auf und viel
zurück, kippte von ihm herunter. Luca wirbelte auf die Füße und hielt
mitten in der Bewegung inne. O’Reily wurde von einem nicht wenig
kleineren, muskulösen Mann gegen die Wand gedrückt, der ihm gerade ein
Messer bis an das Heft in die Nieren rammte, wieder herauszog und nochmals
zustach... zu einem dritten Stoss kam der Mann nicht mehr. Luca sprang ihn
wie eine Katze an und riss ihm den Kopf nach hinten, so brutal, dass der
Fremde von O’Reily abließ und das Messer zu Boden polterte. Sofort sackte
Wayne zu Boden und blieb reglos, schwer blutend dort liegen. Lucas Gegner
wirbelte herum und ließ sich gegen die Wand krachen, um Luca loszuwerden,
aber dieser sprang mit unheimlicher Leichtigkeit fort und rollte sich auf
dem nassen Boden ab, um wieder auf die Füße zu federn, ohne dabei Schaden
zu nehmen. Auch sein zweiter Gegner war wieder auf den Füßen. Nun sah sich
Luca zwei ausgewachsenen Boxern gegenüber. Der, der O’Reily verletzt
hatte, nahm sein Messer wieder auf. Lächerlich klein, die Waffen,
dachte Luca, wenigstens anbetracht der Tatsache, dass der, der die Waffe führte,
einen normalen Mann mit einer Hand den Hals zudrücken konnte. Aber sein Aufprall an der Wand,
hatte dafür gesorgt, dass sein Hinterkopf blutete. Sein blondes, kurzes
Haar färbte sich hellrot. Nur, merkte er davon etwas? Scheinbar nicht. Luca sah sich rasch um. Die
anderen hatten sich alle gegen die Wand gedrängt, in Schach gehalten von
vier weiteren Männer, die alle das Format von Schwergewichtsboxern hatten.
Auch sie waren bewaffnet. Messer, Knüppel... Luca stöhnte innerlich. Beim
durchrechnen seiner Chancen sah er schwarz für sich. „Was verdammt wollt ihr!“
rief er. „Warum habt ihr Wayne...“ Der Kerl mit dem Messer stieß
seine Waffe unkontrolliert voran. Luca konnte ihm mit Leichtigkeit
ausweichen, brachte sich aber damit gefährlich nah an einen andern heran,
dessen gewaltigen Hieb er nur noch gerade so ausweichen konnte. Aus dem Augenwinkel bemerkte er
eine rasche Bewegung in seine Richtung, duckte sich und ließ sich zur Seite
fallen, um über die Schulter abzurollen und wieder auf die Füße zu
federn. Nun kam ihm zugute, dass er ein sehr geschickter Einbrecher war,
aber dennoch wurde er von den sechs Männern wie ein Wild gehetzt. Er konnte
seinerseits nur ausweichen, aber nicht wieder angreifen. Und ein kurzer
Blick zu Wayne sagte ihm, dass er keine Zeit mehr verlieren konnte. Jetzt dürfte er nicht mehr nur
defensiv bleiben. Wayne war mehr als sein Zellengenosse, er war ein Freund. Luca sah sich um. Der Blonde
kam wieder auf ihn zu, sprang ihm entgegen, diesmal wieder gezielt, noch wütender
als zuvor. Er hätte ihm ausweichen können, mit Leichtigkeit, aber er blieb
ruhig stehen und wartete reglos ab, sah ihm entgegen und sprang im letzten
Moment zur Seite, wirbelte um seine Achse, wobei er das Bein hochriss und
seinem Gegner mit aller Gewalt in den Nacken trat. Er konnte das Knacken des
Schädelknochens hören. Bewusstlos, von seinem eigenen Schwung und der
Kraft des Tritts getragen stolperte der Blonde noch zwei Schritte weit und
fiel mit unglaublicher Kraft auf sein Gesicht. Sein Partner heulte vor Wut auf
und walzte auf Luca zu. Dieser tauchte unter dem ersten Schlag durch und
rammte ihm seine Faust in den Bauch und auf den Solar Plexus. Sein Gegner
ging atemlos zu Boden. „Das bereust du...“ keuchte
einer der übriggebliebenen Männer, der seinem letzten Opfer ziemlich ähnlich
sah. Lucas Atem ging bereits schnell
und stoßweise. Lang würde er weder das Tempo, noch die Gewalt, mit der er
vorgehen musste, durchhalten. Und ausgerechnet dieser Kerl war ein Riese,
Breit und stumpfsinnig und grausam. Wieder bemerkte Luca aus den
Augenwinkeln eine Bewegung. Aber scheinbar nur er. Sein Gegner trat auf das
Seifenstück, dass Jack über den Boden gekickt hatte und schlug mit einem
lauten Platschen auf den Rücken. Ein furchtbar nasses Geräusch, in dass
sich das knacken von Knochen mischte. Nun endlich gewann die Wut der anderen
die Oberhand. Sie stürzten sich wie wilde Tiere auf ihre Gegner und knüppelten
die verbleibenden drei Männer nieder. Luca atmete auf und wendete
sich Wayne zu. Sein Freund hatte da Bewusstsein verloren. Er blutete so
stark... Luca kniete neben ihm nieder und drehte ihn auf den Rücken.
Dunkelrotes Blut sickerte über die Fliesen... Luca sah sich rasch um. Kaum
jemand achtete auf ihn. Die Stichwunden waren so groß und breit, gezackt
und ausgefranst. Viel zuviel leben sickerte aus Waynes Körper. Zuviel für
einen Arzt. Behutsam wie nie zuvor strich
Luca über die Wunden. Leise Worte kamen über seine Lippen, düstere Worte,
alt und fremd und machtvoll. Wozu all seine Macht, sein Wissen, wenn er
damit nicht das Leben seiner wenigen Freunde retten konnte?! Vermutlich war
er der einzige Mann, der ihn noch retten konnte. Und wenn er dabei etwas von
sich preisgab, so war es für Waynes Leben gerechtfertigt! Er spürte, wie sein Zauber zu
wirken begann. Eine unheimliche Schwäche kroch durch seine Glieder, eine
Schwäche, die mit dem Verlust von Lebenskraft einherging. Und mit jedem
Moment, den Luca schwächer wurde, kehrte Leben in Wayne zurück. Schließlich unterbrach Luca
den beständigen Strom an Leben, bevor er Wayne ganz geheilt hatte. Schließlich
hatte jeder gesehen, wie man auf Wayne eingestochen hatte und dieser langsam
vor sich hinblutete. „Holt
eine Wache, einen Arzt!!!“ Nun, geschwächt, wie er war,
begann er wieder zu frieren. Luca schlang seine Arme eng um sich. Trotz des
Hemdes und seiner Jacke, kroch die Kälte in seine Knochen. Murakami stand
am Fenster und starrte nach draußen, und Farlan saß hinter seinem
Schreibtisch. Neben der Türe standen Cauldfield und Sloane, ein anderer
Wachmann, ähnlich jung und unerfahren wie Cauldfield. Niemand sprach ein
Wort. Luca, Silverstone und natürlich den Neuen, Stone, hatten sie sich aus
der Masse Gefangener herausgepickt, um sie zu befragen. Luca ahnte, auf wen
sie warteten. Albright. Der Direktor ließ nicht wirklich lange auf sich
warten. Er kam in Begleitung seiner
beiden persönlichen Wachen, die Sloane und Cauldfield ablösten. Die beiden
jungen Männer postierten sich neben den drei gefangenen. Albright, ein noch erstaunlich
junger Mann, höchstens Ende dreißig, dunkelhaarig, mit den selben
stechenden, leicht fanatischen Augen, die auch Farlan hatte, sah seinen
Oberaufseher böse an, der sich in seinem Stuhl aufrichtete und Haltung
annahm. „Vier Verletzte,“ eröffnete er. „Ich komme gerade aus dem
Lazarett. O’Reilys Zustand ist stabil, er wird durchkommen, was er wohl
ihnen zu verdanken hat, Mr. Seraphine.“ Er sah Luca kurz an, strich sich
eine Haarsträhne aus den Augen und setzte sich auf die Tischkante. „Was
allerdings kein Freibrief für sinnlose, rohe Gewalt in meinem Gefängnis
ist!“ Seine Augen bohrten sich in Lucas. „Die Osmond Brüder, Ballard,
Mason, Christiansen und Carson sind verarztet und wieder in ihren Zellen.
Sie hatten natürlich nichts in Zellentrakt D zu suchen, aber ich möchte
jetzt auch ihre Version dieser Geschichte hören, bevor ich mich entscheide,
wem ich welche Privilegien streiche und wen ich mit Einzelhaft bestrafe.“ Luca hielt seinem Blick ruhig
und gelassen stand. Nun drehte sich auch Murakami vom Fenster weg und trat
hinter Farlan. Seine Mimik war wie üblich
unbewegt, aber zugleich war auch ein gewisser Stolz in seinen Augen. „Silverstone, erzählen sie
doch mal,“ forderte Albright den alten Miles auf. „Da gibt es nicht viel zu
sagen, Sir.“ Trotzdem, erzählen sie ihre
Version.“ „Na ja, nachdem O’Reily
niedergestochen wurde haben wir sie fertig gemacht.“ Albright zog ein Zigarettenetui
aus der Jackentasche und öffnete es. „Das war alles?“ fragte er, wobei
er sich ganz darauf konzentrierte eine Zigarette aus den Etui zu nehmen und
sie sich äußerst umständlich anzuzünden. „Ja, Sir.“ „Stone, ihre Version
bitte,“ sagte Albright gelangweilt. Luca ahnte, dass hinter diesem
aufgesetzten Verhalten viel mehr steckte. Hoffentlich machte Stone jetzt
keinen Fehler. Der junge Mann fuhr sich mit
der Hand durch das Haar und sah Albright an. „Während des Duschens kamen
plötzlich diese sechs Männer. Zwei von ihnen hatten angeschliffene Küchenmesser
mit. Aber die hatten sie unter ihren Handtüchern zu diesem Zeitpunkt.
O’Reily hatte sich mit Seraphine unterhalten, das habe ich mitbekommen,
aber worüber, weiß ich nicht. Die beiden haben die Kerle gar nicht
gesehen. Deshalb konnte O’Reily nicht reagieren. Er wurde einfach nur
niedergestochen. Dann brach da die Hölle los. Der Raum war ein Hexenkessel.
Ich habe einfach nur drauf geachtet, nicht zu sehr in das Gemetzel zu
geraten.“ „War das alles?“ fragte
Albright. Jack nickte. „Ja, Sir.“ „Vermutlich werden sie mir
auch nichts neues dazu sagen, Seraphine. Richtig?“ Luca nickte. „Ja, Sir.“ „Also nehme ich mal an, dass O’Reily, nun als Verräter gilt und Shelby seinen Mann umbringen lassen wollte, als Exempel.“ Albright nickte. „Nehmen wir das an. Damit sind sie aus dem Schneider, was, wie ich annehme, Farlan und Murakami auch wesentlich besser gefällt.“ Bei den letzten Worten sah Albright seine beiden Oberaufseher an. „Auch wenn man keine Sympathien für die Gefangenen hegen soll. Aber letztlich stimme ich den beiden zu. Mir ist das auch lieber.“ Er gab Cauldfield einen Wink. „Bring sie in ihre Zellen zurück.“ - previous page- -next page-
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(c) Tanja Meurer, 2000/2002 |